Aktuelle Funktionslehre: Prof. Dr. Dr. hc. Georg Meyer (Greifswald)

28. März 2013
CranioMandibuläre Dysfunktion, CMD-Forschung, Fachbeiträge

Aktuelle Funktionslehre: Prof. Dr. Dr. hc. Georg Meyer (Greifswald)


„Eine spannende Schnittstelle zur Medizin!”

Prof. Dr. Dr. hc. Georg Meyer (Greifswald)

Prof. Dr. Dr. hc. Georg Meyer (Greifswald)
Bildquelle: ©Prof. Dr. Dr. h.c. Georg Meyer

Kempten – Im Rahmen des 5. Curriculums „Rekonstruktive Zahnmedizin, Ästhetik und Funktion” gab Professor Georg Meyer von der Universität Greifswald Mitte Oktober einen Überblick über die aktuelle Funktionslehre. Die Zahnmedizin bezeichnete Meyer als integralen Bestandteil der Medizin. Sein Credo: „Die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde ist eine medizinische Fachdisziplin. Zahnmediziner sollten sich fachlich und mental wieder auf diese Basis des Berufsstandes zurückbesinnen.”

Craniomandibuläre Dysfunktion: Kausalität zur Migräne

Gerade der Kopfschmerz sei ein interdisziplinäres Problem und könne oft zahnmedizinische Ursachen haben. Seine konsiliarische Forderung: „Es ist ein Muss, dass wir bei der Kopfschmerzsprechstunde zu Rate gezogen werden.” Bei asymmetrischen, nicht springenden Schmerzen, die immer auf der gleichen Seite auftreten, läge mit hoher Wahrscheinlichkeit ein zahnmedizinisches Problem vor.

Multiple Risikofaktoren

Allerdings könne man den Erfolg als Zahnarzt nicht erzwingen: „Die Chance ist fünfzig zu fünfzig. Das ist nicht vorhersagbar. Es gibt viele andere Risikofaktoren. Okklusale Interferenzen sind ein Risikofaktor bei CMD, aber weiß Gott nicht der Einzige!” Bliebe der Erfolg aus, sei das zahnmedizinische Problem eben nicht krankheitsentscheidend. Meyers therapeutisches Zeitfenster: „Nach einem halben Jahr sieht man spätestens, ob die Zahnmedizin die Ursache war.” Bei einem Misserfolg müsse der entscheidende Risikofaktor dann außerhalb der Zahnmedizin gesucht werden:

  • Orthopädie
  • Neurologie
  • Psychologie (Stress)
  • Sehfehler/Augenheilkunde
  • Hormonhaushalt/Endokrinologie
  • Trauma

Im Zentrum: Verrücktspielende Muskeln

„Die Okklusion spielt nicht die wissenschaftliche Rolle. Die Okklusion wird besonders dann gefährlich, wenn ich Stress habe”, klärte Meyer auf und entlarvte die druckdolenten Muskeln als wissenschaftliches Korrelat und nicht die Okklusion. Grundlegend macht Meyer deswegen auch die Muskeln für CMD verantwortlich: „Funktionsstörungen sind verrücktspielende Muskeln, die andere Strukturen kaputt machen. Die Muskeln können sich sogar selbst schädigen. Zuerst muss eine Myopathie vorweggehen, dann folgt die Atropathie.”

Das Ziel: Entspannte Muskeln

Deswegen müsse die Therapie auch genau dort ansetzen: „Alles was die Muskeln entspannt, ist positiv. Oberstes Ziel ist die Lockerung der Muskeln.” Aus Sicht der Zahnmedizin habe die Okklusaltherapie den größten Nutzen. Die Schienentherapie habe nur den Sinn die Muskeln zu entspannen. Ergänzend sollten aber auch flankierende Therapien wie Massagen und Entspannungsübungen ernst genommen werden, um den Erfolg der okklusalen Therapie zu unterstützen.

Programmiertes Zusammenspiel

Zähne sind für Meyer im Grunde wie Finger: „Zähne sind modifizierte Tastwerkzeuge. Zähne haben eine Taktilität.” Mechanorezeptoren könnten die Auslenkung der Zähne messen. Diese Informationen liefen dann über die Afferenzen in das ZNS, wo die Verarbeitung und über Efferenzen die Koordination des Kauapparats von statten ginge. Schon in der kindlichen Entwicklung habe das ZNS die Funktionsabläufe so erlernt und programmiert. Deswegen gilt laut Meyer: „Kinder müssen im Wachstum knirschen. Es muss sein, damit die Biomechanik und das neuromuskuläre programmiert werden. Die Natur sorgt dafür, dass Zähne und Kiefergelenk zueinander passen. Kiefergelenke sind das distalste Okklusionspaar.”

Störsignal: Der Weg zur CMD

Bei okklusalen Interferenzen, versuche das ZNS die Störkontakte über die Muskulatur auszugleichen: „Muskeln sind dümmer und stärker als ich dachte. Wenn Muskeln die falschen Befehle bekommen, können sie zerstörerisch werden.” Das Gaspedal für die Muskeln sei das ZNS, die Muskelspindeln die Drehzahlbegrenzer. Bei okklusalen Interferenzen werde auf der Seite des Störkontakts das Kiefergelenk distrahiert, auf der Gegenseite komprimiert. Deswegen treten nach den Erfahrungen Meyers Schmerzen oft am Gegengelenk auf.

Gewissenhafte Zahnmedizin

„Wenn die Okklusion nicht stimmt, geht es an die Gelenke”, warnte Meyer und mahnte zur zahnärztlichen Präzision: „Wir müssen jede Restauration auf 10-20 Mikrometer kontrollieren.” Erst dort habe die Taktilität der Zähne ihre Grenze. Nur mit dünner Okklusionsfolie und Lupenbrille ließen sich deswegen physiologische Kontakte überprüfen. Bei störenden Füllungen und Zahnersatz lautet Meyers Motto Remodellation: „Fissuren vertiefen, Höcker erhalten. Unsere Zähne sind Gebirgsstrukturen.” Soll und Ist stimmten dann wieder überein. So sei auch eine Spontanrelaxation der Muskulatur möglich. Schon die Korrektur einer einzigen Füllung könne ausreichen, um die Muskulatur zu entspannen. „Zu hohe Kontakte sind umso kritischer, je weiter hinten sie sind”, mahnte Meyer zur Vorsicht. Physiologische Kontaktpunkte erläuterte Meyer anhand des Bioästhetischen Modells nach Dr. Robert Lee. Im Grenzfall seien tendenziell weniger Kontakte hilfreich, die Exzentrik sollte frei sein. Der Aufbau einer Front-Eckzahn-Führung helfe exzentrische Kontakte im Seitenzahnbereich zu beseitigen und bringe so eine relaxierende Wirkung auf die Muskulatur. Die Taktilität der Frontzähne zeige sich vor allem nach lateral ausgeprägt. Deswegen sei die Front-Eckzahn-Führung keine rein mechanische, sondern vielmehr eine neuromuskuläre Eigenschaft.

Studie nach Kobayashi: Dramatische Auswirkungen

Meyer zitierte eine Studie von Professor Kobayashi. Diese untersuchte die Auswirkungen einer erhöhten Füllung im Schlaflabor. Er beobachtete nachts sofort mehr Zahnkontakte und mehr Muskelaktivität als in der Kontrollgruppe. Die Tiefschlafphasen nahmen signifikant ab, es wurde vermehrt Adrenalin in den Körper abgesondert. Der muskuläre Stress nahm zu, Atemaussetzer und eine Erhöhung der Pulsfrequenz machten den Patienten häufiger zu schaffen als in der Kontrollgruppe. Die Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit reduzierte sich im Laufe der Studie. Wurde der Störfaktor in der experimentellen Gruppe beseitigt, normalisierte sich der Allgemeinzustand. Gleiche Ergebnisse zeigten sich im Wechsel auch bei der Kontrollgruppe als ein okklusaler Störfaktor eingebaut wurde. Nach 14 Tagen brach Kobayashi die Studie ab, da die ersten Probanden anfingen unter Kiefergelenksschmerzen zu leiden.

Meyers Amalgamtheorie

„Die allermeisten Funktionsstörungen sind auf Amalgamfüllungen”, ist die Erfahrung Meyers. Er führt die gesundheitlichen Probleme mit Amalgamfüllungen deswegen nicht auf deren vermeintliche Toxizität zurück, sondern auf die okklusalen Störfaktoren auf dem harten Füllungsmaterial. Seine klinische Beobachtung: „Ich habe bei hunderten Patienten mit Amalgamfüllungen Funktionsstörungen gefunden. Es ist nicht der Werkstoff, es ist die Okklusion.” Die allgemeinmedizinischen Symptome seien nach der Studie von Kobayashi mit denen einer Quecksilbervergiftung vergleichbar.

Gequetschte Bahnen

„Kiefergelenke sind nicht wie andere Gelenke stark belastbar. Die Kaukräfte sind stärker als das, was der Discus vertragen kann”, klärte Meyer auf. Im Gelenk werde deswegen immer die Kraft Null angestrebt. Das Zusammenspiel der Gelenke sei ein Tast- und Steuerungsorgan. Durch entfesselte Muskeln würden die Gelenkstrukturen gequetscht. Meyers Warnung: „Langanhaltende, große Belastung macht diese kleinen Knirpse kaputt. Quetschen ist das, was die Gelenke traumatisiert.” Normalerweise laufe das Kiefergelenk nahezu reibungsfrei wie auf Glatteis. Bei Fehlbelastungen ginge der Schmierfilm der Synovia verloren. Dort, wo der Schmierfilm abreist, gebe es temporäre Verklebungen und damit ein Abbremsen. Dieses mache sich durch ein Knacken und/oder Schmerzen bemerkbar. Bei einer Deviation werde diese raue, schmerzende Stelle umgangen. „Auf der glitschigen Bahn ist dann eine Stelle rau”, erklärte Meyer dieses reversible Mikrotrauma und empfahl zur Therapie: „Ich entquetsche die Strukturen mit einer Schiene.” Die Synovia könne die Gelenkbahnen dann wieder regenerieren.

Trügerisches Makrotrauma

„Das Knacken allein ist kein verlässlicher Indikator, um das spezielle Krankheitsbild zu diagnostizieren”, gab Meyer zu bedenken. Gerade bei einer Diskusverlagerung ohne Reposition ergebe sich eine gerade Spur der Gelenkbahnen ohne Auf- und Abspringen des Kondylus. Die Form des irreversiblen Makrotraumas sei deswegen trügerisch: „Wir dachten, das sind gesunde Gelenke.” Ein Schnellscreeningbogen könne vor einer Behandlung schnell Aufschluss darüber geben, ob das Kauorgan funktionsfähig ist, oder nicht:

? Mundöffnung asymmetrisch
? Mundöffnung eingeschränkt
? Exzentrische Bewegung traumatisch
? Gelenkgeräusche/-schmerzen
? Muskelpalpation asymmetrisch
? Keine physiologische Zentrik

Bei drei oder mehreren positiven Befunden beziehungsweise einer Abweichung der physiologischen Zentrik von der maximalen Interkuspidation sei eine Krankheit wahrscheinlich.

Entspannung registrieren

„Die anatomische Definition der Zentrik hat heute eine untergeordnete Rolle”, klärte Meyer auf und definierte aus therapeutischer Sicht die Zentrik: „Wenn das Integral der gesamten Muskeln auf niedrigstem Niveau ist.” Für die Herstellung einer Dekompressionsschiene dürfe deswegen kein Registrat von der Pathologie genommen werden. Das sei zu beachten, wenn eine Diskrepanz zwischen der Interkuspidation und der physiologischen Zentrik bei entspannter Muskulatur besteht. Im Artikulator müsse der gleiche Frühkontakt dann auch wieder zu finden sein. Vor dem Zentrikregistrat sei die Entspannung der Muskulatur der entscheidende Faktor.

Der Watterollentest

Meyer legt zu diesem Zweck zwei Watterollen im Bereich der Eckzähne zwischen Ober- und Kiefer: „Der Patient soll sich auf den Watterollen ausruhen.” Außerdem sei auf eine gerade Kopfhaltung zu achten. Alles was in diesem Moment zur Entspannung beitrage sei hilfreich. Nach dem Entfernen der Watterollen sollte der Patient nun entspannt protrudieren. Beim Zurückführen des Unterkiefers müsse nun der Punkt abgepasst werden, an dem Protraktoren entspannen und die Retraktoren noch nicht aktiv sind. Mit leichter Berührung der Kinnspitze könne der Patient dann aus dieser Schwebe in die physiologische Zentrik geführt werden. Bei Craniomandibulären Dysfunktionen müsse der Patient mit einer Schiene so lange vorbehandelt werden, bis er zentrikfähig ist. „Das geniale Konzept ist das der Michiganschiene”, denn hier könne in engmaschigen Okklusionskontrollen optimiert werden. „Das ist ein dynamischer Prozess. Es entscheidet der Grad der Korrekturen, wie oft ich den Patienten wieder einbestelle”, beschrieb Meyer das Intervall der Schienenkontrolle.

Demonstration der Registration

Am Patienten zeigte Meyer eine digitale Axiographie und ein Zentrikregistrat. Zum Registrieren empfahl er Aluwachs: „Was nicht gut geht, sind die silikonbasierten Massen. Sie sind leider nicht präzise genug.” Die Trägerplatte sei nicht entscheidend für den Erfolg der Registrierung: „Das eigentliche Registrat ist nicht die Trägerplatte. Sie könnten auch Sperrholz nehmen.” Bei muskulär verspannten Patienten arbeitet Meyer zusätzlich noch mit einem Jig. Ziel sei es so die pysiologische Zentrik einzufrieren.

Das Fazit

Ein humorvoller Referent, der durch seine fachliche Exzellenz und eine eingehende, plakative Vortragsweise besticht. Die Craniomandibuläre Dysfunktion findet sich in Alltagssituationen und Anekdoten wieder, was diese komplexe Pathologie für Jeden unterhaltsam begreiflich macht. Der Kurs ist für die Spezialisierung bei der European Dental Association (EDA) anerkannt.

Autor: Johannes Löw, 28. Dezember 2012

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