Aus zahnärztlicher Sicht ist die Okklusion ein wesentlicher Faktor der craniomandibulären Dysfunktionen, deren Untersuchung ein elementarer Bestandteil der interdisziplinären CMD-Diagnostik bleiben muss. Denn sollte die neuerdings verbreitete Sichtweise einer vorwiegend „biopsychosozialen“ Ätiologie von CMD, Eingang finden in Leitlinien und Behandlung funktionsgestörter Patienten, demnach die Okklusion vermeintlich und entgegen allen praktischen Erfahrungen und auch entgegen anderslautender Forschung aus den vergangenen Jahrzehnten keine Rolle mehr spielt, ist ein dramatischer Qualitätsverlust in Zahnmedizin und Zahntechnik zu befürchten – zulasten der Patienten.
Patient mit Kieferschmerzen – ohne Berücksichtigung der Okklusion in der CMD-Diagnostik leidet die Qualität der Behandlung.
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Ebenso wird es mittelfristig keine Aus- und Fortbildungen zu Okklusion und Okklusionskonzepten mehr geben und damit leider auch elementares Wissen über Anatomie, Morphologie, Biomechanik und Funktion der Zähne verloren gehen.
Den praktizierenden Zahnärzten und Zahnärztinnen muss dann auch klar sein, dass sie ihre ureigene Expertise für die Zahn- und Mundgesundheit aufgeben und sich lediglich zu „Zuweisern“ für Physiotherapeuten, Osteopathen und Psychotherapeuten „degradieren“ lassen.
Große Gewinner dieser Sichtweise sind in erster Linie die privaten Krankenversicherungen, die dann jegliche funktionell indizierten Behandlungen ablehnen können. Große Verlierer sind die Patienten und Patientinnen, die mit ihren Beschwerden allein gelassen werden.
Es bedarf einer großen Initiative für die Erstellung von Meta-Studien zu Ätiologie und Diagnostik von CMD sowie vor allem neuer praktischer Studien, um hier Klarheit zu schaffen und tatsächlich evidenzbasierte Aussagen treffen zu können.
Dr. Hans-Joachim Roos
Niedergelassener Zahnarzt, Ulm
Referent der GZFA- Gesellschaft für Zahngesundheit, Funktion und Ästhetik mbH
Quelle: OEMUS MEDIA AG
Ausgabe 11/2022 ZWP Zahnarzt Wirtschaft Praxis
https://epaper.zwp-online.info/epaper/gim/zwp/2022/zwp1122#34